Alkoholiker im Unterricht?
„Ich bin Peter (zum Schutz der Personen sind die Namen geändert). Ich bin Alkoholiker. Ich kann nicht mit Alkohol umgehen. Das ist eine Krankheit. Unsere Lebensversicherung ist die Ehrlichkeit – nur die hilft uns am Leben zu bleiben. Sonst hätten wir schon längst unser Leben versoffen.“ Mit diesen Worten stellte sich Peter am 20. März 2014 der Klasse 8a, der Parzival-Mittelschule Amorbach vor. Und mit diesen überzeugend ehrlichen Worten fesselte er nicht nur mich sondern auch die Schüler.
Peter und seine Begleiterin Claudia gehören zu der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker (AA) und möchten uns ganz einfach ihre Erfahrungen mit dem Genuss- und/oder Suchtmittel mitteilen.
In ähnlich „brutaler Ehrlichkeit“ wie Peter erzählte seine Begleiterin: „Ich bin Claudia. Ich bin Alkoholikerin. Ich bin in einer Alkoholiker Familie aufgewachsen. Bei uns daheim gab es nur Krach. Ich habe andere Familien beneidet. Ich gab mir am Anfang die Schuld an den vielen Streitereien. Ich habe auch Selbstmordgedanken gehabt. Mit elf Jahren habe ich angefangen zu trinken. Ich wollte nicht so werden wie mein Vater. Der Alkohol hat was mit mir gemacht – daheim war alles plötzlich leichter. Ich habe auch gemerkt, wenn ich zu trinken anfange, kann ich nicht mehr aufhören. Mit 15 durfte ich bei Tanzveranstaltungen im Dorf bis 24 Uhr wegbleiben; doch oft hat man mich schon viel früher heimgebracht – ich war stockbesoffen.“
Später lernte Claudia einen Mann kennen. „Ich wollte ein Kind haben, ich wollte geliebt werden. Ich wusste auch, was passieren kann mit einem ungeborenen Kind. Aber meine Gedanken kreisten nur um den Alkohol. Ich habe Alkohol geklaut, ich bin stockbesoffen mit dem Kind zuhause hingefallen. Ich war geisteskrank. Mit 29 Jahren habe ich zwei Flaschen Schnaps gebraucht, die ich mit Ekel runter gewürgt habe. Zum ersten Mal habe ich um Hilfe gerufen! Ich muss was machen! Ich machte eine Therapie und lernte unter anderem Ehrlichkeit. Das hat mich gerettet.“
Claudias Schicksal mag wohl einer immer wieder gebrachten Klischee Darstellung entsprechen: Ein Kind kommt früh mit Alkohol in Verbindung und wird so zum Alkoholiker.
Peter erzählt wieder und zeigt einen völlig anderen „Werdegang“. „ Ich bin erst mit 21 Jahren zum Alkohol gekommen. Ich habe nicht wegen vermeintlicher Probleme gesoffen. Es war die Flower-Power Zeit – eine tolle Zeit; ich habe einfach aus Spaß getrunken. 21 Jahre lang habe ich jeden Tag getrunken – und konnte nicht aufhören. Ich habe viel Geld verdient, habe eine tolle Karriere gemacht – und gesoffen. Ich habe nicht mehr gelebt, ich musste saufen. Ich konnte auch mit meinen Kindern nichts unternehmen.“
Und plötzlich wurde seine Stimme weich, als er eine berührende Episode erwähnt: „Mein 12-jähriger Sohn war krank, ich brachte ihn zum Arzt. Ich konnte aber den Krankenschein nicht ausfüllen, da ich noch nichts getrunken hatte, und wegen der Entzugserscheinungen dermaßen zitterte, dass ich nicht schreiben konnte. Mein Sohn musste diesen Schein ausfüllen.“
Als der Firmenchef eines Tages sagte: „Tu was für dich,“ erkannte Peter, dass er handeln musste. Er machte eine Therapie und ist heute trocken, aber auch er weiß, dass die Krankheit Alkoholismus nicht heilbar ist, und er mit Alkohol nicht umgehen kann.
Fast 80 Minuten lang haben die Schüler gebannt zugehört. Claudia und Peter haben keinen Finger erhoben, haben nicht ermahnt und auch nicht gedroht – sie haben fast schon schmerzlich ehrlich ihre Erfahrungen mit dem Alkohol Revue passieren lassen.
Wenn in Zeiten, wo Koma-Saufen unter Jugendlichen immer wieder für Schlagzeilen sorgt, junge Menschen nachdenklich gestimmt werden bezüglich ihres Umgangs mit dem Alkohol, so haben wir ein ganz wichtiges Ziel erreicht.
Dietmar Küchel, Klassenlehrer 8a